Matilda schaute in den Spiegel. Ihr Gesicht spiegelte eine zerrissene Seele wider. Ihr goldenes Haar war inzwischen länger geworden, ihre strahlend blauen Augen bewahrten ihren intelligenten und lebhaften Ausdruck, doch tief darin verbarg sich eine unendliche Traurigkeit. Sie hatte ihren Nachnamen in Gerner geändert – ein Schritt, von dem sie einst glaubte, er würde sie ihrem neuen Vater näherbringen. Doch die Realität war eine andere: Die Distanz zwischen ihr und Jo Gerner wuchs stetig. Gerner gab sich Mühe. Er verbrachte Zeit mit ihr, schenkte ihr teure Geschenke, nahm sie mit auf Reisen. Aber Matilda hatte das Gefühl, dass all das nur Fassade war. Er behandelte sie wie eine perfekte, gehorsame Tochter, nicht wie einen Menschen mit eigenen Gedanken und Gefühlen.
In einem Telefongespräch mit Julian, ihrem Zwillingsbruder, der in einer anderen Stadt lebte, brach Matilda in Tränen aus. Sie erzählte ihm all die Dinge, die sie bisher für sich behalten hatte: über ihren leiblichen Vater, der sie und ihren Bruder verlassen hatte, über die Wut und den Zorn, den sie Gerner gegenüber empfand. “Er will uns nur als Ersatzfiguren, Julian. Er will die Lücken in seinem Leben mit uns füllen,” schluchzte Matilda. Julian schwieg lange, bevor er seine Schwester tröstete. Er verstand Matildas Gefühle besser als jeder andere. Beide hatten eine unvollkommene Kindheit erlebt, und die seelischen Wunden schmerzten noch immer.
Am Weihnachtsabend schmückten Matilda und Julian gemeinsam den Weihnachtsbaum. Als das schimmernde Licht der Lichterkette den Raum erfüllte, verspürte Matilda eine unerwartete Wärme. Sie sah in das Gesicht ihres Bruders und erkannte darin Mitgefühl und Liebe. “Matilda,” begann Julian, “hast du jemals darüber nachgedacht, dass wir vielleicht zulassen, dass die Vergangenheit unser Leben kontrolliert?” Überrascht sah Matilda ihn an. Daran hatte sie noch nie gedacht. “Ich weiß, es ist schwer zu vergeben,” fuhr Julian fort, “aber glaubst du nicht, dass Vergebung nicht nur für die anderen ist, sondern auch für uns selbst? Damit wir Frieden in unserer Seele finden können?”
Julians Worte brachten Matilda zum Nachdenken. Sie verstand, dass das Festhalten an ihrem Groll sie nur weiter quälte. Vielleicht war es an der Zeit, die Vergangenheit loszulassen und sich den schönen Momenten der Gegenwart zu öffnen. Matilda blickte auf das lodernde Feuer im Kamin und spürte die Wärme, die sich im ganzen Raum ausbreitete. Sie wusste, dass der Weg vor ihr lang sein würde, aber sie war nicht mehr allein. Denn an ihrer Seite waren Julian – und auch Jo Gerner, trotz seiner Schwächen. In dieser Weihnachtsnacht entfachte Matilda eine neue Flamme der Hoffnung. Sie glaubte, dass sie durch Liebe und Vergebung ihr wahres Glück finden würde.